Gedenken am Tag der Befreiung

Am Samstag, den 08. Mai, gab es coronabedingt auch in Ilmenau nur eine kleine Gedenkveranstaltung.

Die zentrale Rede hielt Christian Schaft und wird hier in voller Länge wiedergegeben:

 

Liebe Anwesende, Liebe Freund*innen, Liebe Mitstreiter*innen,

vor 76 Jahren endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Befreit wurden alle die unter dem völkischen und mörderischen Regime leiden mussten und als Verfolgte diesem zum Opfer fielen. Schauen wir heute an diesem Tag auch auf die letzten Kriegswochen, zeigt sich die ganze Barbarei des Systems und der Ideologie auch hier vor Ort.

Erst vor wenigen Wochen wurde im Jonastal an die Todesmärsche Anfang April 1945 gedacht. Wenige Tage bevor durch US-amerikanische Truppen die Stadt Ilmenau erreicht wurde sind wenige Kilometer von hier Menschen im puren Vernichtungswahn von den SS-Männern durch die Region getrieben wurden. Ge-schlagen, erschlagen, von den Wachhunden gebissen, von den Wachmännern am Straßenrand erschossen und in den Straßengraben geworfen.

In Thüringen kamen in den Wochen zwischen März und April 1945 Tausende Menschen während der Todesmärsche ums Leben. Hunderte Gemeinden wurden Schauplatz an dem Menschen an Erschöpfung starben oder ermordet wurden. Die Gedenksteine auf den Marschrouten erinnern und mahnen uns. Ebenso wie die Denkmäler und Gräberfelder, wie hier an diesem Ort.

Es sind die Orte des Gedenkens die viele heute aufsuchen zum Erinnern – Mahnen – und als Akt des Handelns. Heute am 8. Mai erinnern und gedenken wir den Millionen Toten, die durch den Nationalsozialist*innen verschleppt und ermordet wurden. Den Gegner*innen des Systems und Antifaschist*innen der aus Parteien, Gewerkschaften, zivilem und militärischem Widerstand.

Sowie den durch die völkische Mordmaschinerie Verfolgten, wie Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Rom*nja, Homosexuellen oder Menschen mit Behinderungen.

Und wir danken und erinnern an die unzähligen Soldat*innen der Roten Armee, der Vereinigten Staaten und des britischen Commonwealth, der französischen Résistance, die sich dem Faschismus stellten und größte Opfer brachten. Wir danken und erinnern an den Widerstand der Partisan*innen in den von Deutsch-land besetzten Ländern.

Der 8. Mai darf dabei nicht als Schlussstrich verstanden werden, wie manche sich das Wünschen. Es ist auch den vielerorts in den Wochen nach der Befreiung entstandenen Antifa-Ausschüssen und den Befreiten in den Konzentrations- und Sonderlagern zu verdanken, dass der deutschen Schlussstrichmentalität, etwas entgegengesetzt wurde.

Verfolgte des Regimes begannen ganz im Zeichen der Solidarität die soziale und medizinische Hilfe für die Überlebenden aus den Hafteinrichtungen und Konzentrationslagern zu organisieren.

Aus diesen Strukturen gingen in den Besatzungszonen die Landesvereinigungen des VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes hervor, getragen im Gedanken des Schwurs von Buchenwald: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Wie notwendig die Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Deutschen war, zeigte sich bereits in den Tagen um und nach der Befreiung. Angeordnet durch die Streitkräfte der Befreier*innen sollten sich die Einwohner*innen wie bspw. in Nordhausen am 7. Mai den Ehrenfriedhof für die Opfer anschauen. Es sollten die verübten Verbrechen vor Augen geführt wurden. Doch schnell wurde Schuld von sich gewiesen.

Wurde die Verantwortung für die Verbrechen in den Konzentrationslagern zurückgewiesen. Wurde die Opferrolle durch die Täter*innen eingenommen. Wurde gesagt man sei zu Opfern des Systems geworden.

Doch die Orte des systematischen und industrialisierten Massenmordes lagen Jahre lang vor der eigenen Haustür. Buchenwald, Mittelbau-Dora, das Jonastal mit dem Lager Espenfeld oder Ohrdruf: all diese Orte legen Zeugnis darüber ab.

Und nicht erst mit deren Existenz war notwendig, um die mörderische Ideologie zu erkennen.

Vor wenigen Tagen las ich die Erzählung „Die Nase“ von Bruno Jasieński. Geschrieben im politischen Exil im Jahr 1936 persifliert der Schriftsteller den deutschen Rassenwahn sinnbildlich in der Figur eines Professors und überzeugten Nationalsozialisten. Eine Geschichte, die erahnen lässt wie sehr die Ideologie von den Massen durch alle gesellschaftlichen Bereiche hinweg in den Köpfen verankert war.

Ich erzähle von diesem literarischen Beispiel und dem was es sichtbar wer-den lässt, weil wir am 8. Mai auch immer wieder daran erinnern müssen, wer am 8. Mai befreit und wer besiegt wurde und daran, dass die Ideologie überlebte.

Denn während der 8. Mai für so viele Menschen ein Tag der Befreiung war, so gab es auch diejenigen die ihn als Niederlage betrachteten oder noch immer betrachten. Personen wie die überzeugten Nationalsozialist*innen und ihre Mitläufer*innen. Die Militärs und Fanatiker*innen mit ihrem Traum von faschistischen Großdeutschland. Besiegt wurden alle kleinen und großen Nazis und alle diejenigen, die genau wussten, was für Verbrechen in ihrem Namen geschahen und die einfach mitmachten oder sich hinter dem Vorhang des vermeintlichen Nicht-Wissens verschanzten. Das System des NS-Regimes es funktionierte erst dadurch, dass es durch die Massen getragen wurde.

Das nie zu vergessen, daran zu erinnern, zu mahnen, das bedeutet auch handeln. Handeln bedeutet heute im hier und jetzt Räume zu schaffen. Räume für eine solidarische und antifaschistische Politik. Eine Politik die nicht nur Abwehrkämpfe gegen Rassismus und Diskriminierung führt. Sondern für eine Politik und Zivilgesellschaft, die aktiv und gemeinsam dafür streitet, die Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen. Und dass es notwendig ist, liegt auf der Hand. Heute sitzen Faschist*innen wieder in Parlamenten: im Bund, in den Ländern und den Kommunen. Auch dies ist nicht vom Himmel gefallen.

Instrumente wie der Thüringen Monitor zeigen uns schon lange, dass wir einen stabilen Anteil von Denk- und Einstellungsmustern in der Bevölkerung haben, die den Nährboden bilden für rechte, völkische und rassistische Parteien wie die AfD. Eine Partei die getrost als parlamentarischer Arm der extremen Rechten bezeichnet werden kann und dies ächten und zu bekämpfen gilt. Denn dahinter stehen Netzwerke und militante Strukturen die aktiv sind, auf der Straße und im Internet.

Unsere Verantwortung heute ist es Lehren aus dem Faschismus und der Befreiung vom Faschismus zu ziehen. Und das bedeutet, dass wir Faschismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, jede Form von Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung zu bekämpfen. Das wir rechte Hetze widersprechen müssen, in den Parlamenten, auf der Straße, im Internet, in den Cafés, an den Schulen und den Sportvereinen, einfach überall.

Für „Wehret den Anfängen“ ist es bereits zu spät. Das mag drastisch klingen. Aber die letzten Jahre haben erneut gezeigt wie rechte und rassistische Gewalt sich Bahn bricht. Seit Der NSU-Komplex, die Drohschreiben des selbsternannten NSU 2.0, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke, Angriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten, der rechte Anschlag auf eine Synagoge in Halle, das Attentat von Hanau, all das steht exemplarisch dafür das die Anfänge längst überwunden sind.

 

Und vor einem Jahr sprach ich an gleicher Stelle noch davon, dass wir auch die Vereinnahmung von Protesten gegen Corona-Maßnahmen im Auge behalten müssen. Ein Jahr später blicken wir nun auf das was sich bei den sogenannten „Spaziergängen“ Bahn bricht. Nicht berechtigte Kritik im demokratischen Meinungsstreit wird dort auf die Straße getragen, sondern Verschwörungserzählungen werden verbreitet.

Plakate getragen auf den Politiker*innen aller demokratischen Parteien, Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen oder Journalist*inne in Häftlingskleidung zeigen. Und mit dem oft zu sehenden gelben „Ungeimpft“-Sternen oder der Vereinnahmung von Widerstandskämpfer*innen und Verfolgten wie Sophie Scholl oder Anne Frank, ist die Holocaust-Relativierung zentraler Bestandteil der Selbstdarstellung geworden bei denen, die meinen Grund- und Freiheitsrechte zu verteidigen.

Verschwörungserzählungen rund um das Corona-Virus, im Netz und auf der Straße mit einfachen Erklärungen ebnen den Weg für antisemitische und rassistische Weltbilder. Und dem müssen wir gemeinsam entgegentreten, bei aller Verschiedenheit in der Sache.

Das anzumahnen, an einem solchen Tag an dem wir erinnern ist notwendig, damit wir handeln. Es ist eine Handlungsaufforderung an uns alle heute, sich jeder Form von Faschismus, Rassismus und Antisemitismus entgegenzustellen und die Erinnerung an die Menschen wach und lebendig zu halten, die von Nationalsozia-list*innen ermordet wurden, um die Relativierungen zu entlarven und dem Geschichtsrevisionismus keinen Raum zu geben. Diese Herausforderung wird umso größer desto mehr Zeitzeug*innen uns leider verlassen. Wie erst vor wenigen Wochen als Günther Papenheim verstarb. In seiner aufgrund der Pandemie letztes Jahr zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald nicht gehaltenen, aber verschriftlichen Rede schrieb er:

„Ich bin in einer Gegenwart, die offenbar aus der Vergangenheit zu lernen nicht in der Lage ist. Es gibt erstarkende Kräfte die, Nationalismus und völkisches Denken neu beleben, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus ideologisch befördern. (…) Für mich das will ich nochmal mit aller Deutlichkeit betonen, war der Schwur von Buchenwald ein Leben lang verbindlich. Ich weiß, dass es aus nach-folgenden Generationen Menschen gibt, die nicht aufhören, sich um die Verwirklichungen des Schwurs zu mühen“.

Lassen Sie uns gemeinsam diese Menschen sein, sie sich gemeinsam mit vielen anderen tagtäglich gegen Rassismus und rechte Gewalt einsetzen. Lassen Sie uns gemeinsam diese Menschen sein, die die Erinnerungsarbeit mit Leben füllen. Lassen Sie uns alle zusammen diese Menschen sein, die die Menschenrechte und die Freiheit verteidigen, die ohne den Tag der Befreiung hier und heute nicht Realität wären.